Die Zeit hat keine Dauer (I)

TEIL 1 - Anatomie einer Recherche

 

„Die Zeit hat keine Dauer, sondern alle Dauer ist in ihr, und ist das Beharren
des Bleibenden, im Gegensatz ihres rastlosen Laufes.“Arthur Schopenhauer.

 

Ich schreibe derzeit eine Kurzgeschichte. Und zu ihr mache ich die bisher eindringlichste Recherche, die ich zu einem Thema je gemacht habe. In der fertigen Geschichte wird meine Motivation sehr deutlich werden. Das Ereignis in meiner Geschichte passierte am 19. September 1972 um 13:15 Uhr. Auch wenn es ein tragisches Ereignis war, so könnte er mir gänzlich egal sein. Schließlich bin ich Jahrgang 1974. Aber es ist mir nicht egal.Genau darum geht es.

Da ist zum Einen eine Metaphorik, die sich aufdrängt. „Der tote Winkel“ als Sinnbild für das Vergessen. Ein Grab, das nicht mehr da ist, ersetzt durch eine Grasnarbe mit einem Weg, der ins Nichts führt. Und ein Betrachter – das bin ich - welcher sich von der Zeit zu lösen scheint. Alles, was zwischen diesem Dienstag im September 1972 und dem Hier und Jetzt passiert ist, ist nicht relevant, wenn man vergangene Zeit als Selbstzweck, Seelenwunderheilmittel oder sinnvolle Brücke zwischen Vergessen und Erinnern definiert. Arthur Schopenhauer hatte recht – die Zeit hat keine Dauer. Die Welt ist Wille und Vorstellung.

Nun kann man sich als Nachgeborener einige Dinge aus der Welt im Jahr 1972 nur bedingt vorstellen. Es helfen alte Fotos in Social Networks, Kindheitserinnerungen – die Autos aus meiner Kindheit sind heute mindestens ´Youngtimer´ und fallen auf der Straße heute richtig auf. Ein Teil der Welt bleibt dennoch verschlossen. Die Fantasie muss diese Lücke kompensieren. Die Fantasie ist eines der Instrumente, die der Dichter spielen können muss.

So war ich heute im „Troisdorfer Stadtarchiv“ und wollte mir anhand von Zeitungsartikeln einen Rahmen um diese Wissenslücke setzen. Wo genau war der Unfall passiert, welche Diskussionen gab es in den Folgetagen und welche zusätzlichen Informationen stecken noch in den Berichten, die mir bisher nicht bekannt waren. Etwa der genaue Tag und die Uhrzeit – ich wollte einfach wissen, welches Wetter an diesem Tag war, welche Ereignisse vor und nach diesem Tag passiert sind. Dieser Tag zerschneidet eine Lebenslinie in Erlebtes und Nicht-Erlebtes. Dieser Schnitt gerät in Vergessenheit. Das Leben ging ja weiter, natürlich. Aber dieser Einschnitt ist da und hatte sogar in meinem Leben eine Bedeutung.

Die Dame vom Stadtarchiv war sehr freundlich. Auf einem Wagen brachte sie mir einen Karton und in ihm abgeheftet die Ausgaben des „Anzeiger für Rhein und Sieg“ von Juli 1972 bis Oktober 1972. Ich war überrascht, wie klein die Zeitungen damals im Umfang waren. 10 Seiten, großformatig, inklusive Anzeigen. Der Lokalteil bestand quasi nur aus Text, kam immer auf Seite drei und umfasste die lokalen Berichte in einer Art Bürokratendeutsch.

Aus den „Social Networks“ hatte ich erfahren, in welchem Zeitraum ich suchen musste. Spannend waren auch die historischen Abläufe 1972 auf den Titelseiten. Die Olympischen Spiele in München beginnen, die Spiele werden nach dem Terroranschlag der Palästinenser unterbrochen, Rainer Barzel und Willy Brandt ringen um einen Termin zu Neuwahlen nach dem Misstrauensvotum und ein Finanzminister (Karl Schiller) kokettiert mit einem möglichen Parteiwechsel. Und dann, am 20.09.1972 gibt es dann die Notiz - mehr war es dann doch nicht - nach der ich gesucht hatte:

 

 

Und darum geht es ...
Ich war selbst ungefähr sieben oder acht Jahre alt. Mein Vater hatte auf dem Friedhof in dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, das Grab meiner Großmutter und eines Onkels – beide habe ich nie kennengelernt – immer gepflegt und ich war ab und an dabei. Ich konnte gerade rechnen, es muss so 1981 gewesen sein. Ich lief durch die Reihen der Gräber und rief meinem Vater zu, wie alt die Leute geworden sind, die dort beerdigt waren. Als Kind war das wie ein Spiel und die Zahlen auf den Grabsteinen waren viel interessanter, als die Gedanken an Schicksale, die für ein Kind eh noch keine Bedeutung hatten. Das änderte sich aber, als ich bei einem Grab eine sehr kleine Jahreszahl ausrechnete. Selbst als Kind war mir bewusst, dass ich das nicht über den Friedhof rufen konnte. Kleinlaut ging ich zu meinem Vater und fragte, ob die Menschen, die die Grabsteine machen, manchmal vielleicht Fehler machen ... .

So beginnt meine Geschichte und sie hat deswegen eine Bedeutung, weil ich nach 35 Jahren mal wieder auf diesem Friedhof gewesen bin. Das Grab von meiner Großmutter und meinem Onkel existiert noch. Aber nicht mehr das Grab von dem Mädchen, dessen Schicksal mir den ersten ernsthaften Gedanken in meinem Leben abgerungen hatte. Mir ist in den letzten Wochen klar geworden, dass mich ein wichtiger Gedanke unterbewusst seit diesem Tag begleitet – aber den Namen des Mädchens und die Hintergründe hatte ich vergessen.

Wie das alles zusammenhängt, erkläre ich in Kürze ... .