Memel.

 

Als im Frühjahr 1944 Ostpreussen nicht mehr zu halten war - die Rote Armee war auf dem Vormarsch - wurde es für Familien dort immer schwerer, den Alltag zu bewältigen und Kontakt zu halten. Mein Großvater hat damals an meinen Vater einen Brief geschrieben, der gleichzeitig das letzte Lebenszeichen meines Großvaters war. Meinem Vater hat dieser letzte Brief immer viel bedeutet.

Ein letztes Lebenszeichen

Brückenkopf Memel, 14. Januar 1945


Mein lieber Kronensohn,

am heutigen Sonntag erhielt ich wohlbehalten Deinen Brief vom 06.01. diesen Jahres, der wohl gut zugeklebt war, aber nicht geöffnet zu sein scheint. Hab‘ vielen Dank dafür, beantworte ihn auch gleich, da ich heute Nachmittag frei und demnach Zeit habe. 
Mein lieber Heinzemann, mit dem Schicken ist jetzt eine schlimme Zeit. Jeder Einzelne, der zum Lazarett durchfuhr oder dringend in Urlaub muss, muss sein ganzes Gepäck, z.B. gepackten Tornister, Gewehr, Munition, Stahlhelm, Gasmaske und zwei Decken und Verpflegung für mindestens zwei Tage mitnehmen. Über See geht vorläufig kein Dampfer also nur über die Nährung, zu Fuß oder per Rad nach Schwarzort. Von dort geht ein kleiner Omnibus bis Kranzbeck und von hier geht es erst mit der Bahn weiter. Also Pakete kann ich hier nicht aufgeben oder mitnehmen. Bis nach Schwarzort kann kein Mensch etwas mitnehmen, weil jeder für sich genug zu schleppen hat. Habe Geduld - wenn sich eine Gelegenheit bietet, dann schicke ich Dir was ich kann zu. 
Ich freue mich sehr, dass Du ein tüchtiger Mensch werden willst und noch dazu, Elektronik. Ja mein Kronensohn, dass ist ein schöner Beruf, wenn man durchhält und die Prüfung besteht. Hat denn die Schule schon begonnen? Wo liegt dieselbe und gib‘  mir bitte die genaue Anschrift! Warum schreibt Mutti nicht? Von Dir habe ich schon zwei Briefe erhalten, während von Mutti noch keinen.

Bald wäre ich am Freitag den 12.01. nicht mehr am Leben gewesen. Denn als ich mit meinem Trupp in Stärke von 32 Mann vom Ausbau der Stellung zurückkam, schoss der Ivan in der ganzen Stadt Störungsartelleriefeuer. Über dem Bahnübergang auf dem Wege zum Quartier setzte der Hund mir vor der Straße an der Ecke von Boyen und Tannenbergstrasse mitten auf der Chaussee einen ganz netten Brocken unverhofft hin. Ich flog von dem Luftdruck gegen die Mauer des roten Schuppen am Stellwerk. Während zwei Kameraden fünf Schritte vor mir verwundet liegen blieben. Nach kurzer Zeit erhob ich mich, ging zu den Kameraden, legte den Schwerblutenden einen Notverband an und brachte ihn mit Hilfe von Infanterie in den Keller des nächsten Hauses. Dann hielt ich einen Kradmelder an, der unseren Sanitäter holte und bestellte den Krankenwagen. Der zweite Kamerad hatte nur eine leichte Verwundung durch einen Splitter im rechten Unterarm. Der erste Kamerad Messedat wurde durch drei Splitter durch den Stahlhelm am Kopf, Brust und rechten Unterschenkel schwer verwundet. Wurde dann nach kurzer Zeit nach dem Feldlazarett geschafft, gleich operiert und hat bis Sonnabend um 5:40 nur noch gelebt. Gleichzeitig wurde durch denselben Treffer ein herrenloses Pferd tödlich getroffen. Mein ganzer Trupp war in den Keller gelaufen und man schon gemeldet, dass ich auch schwer verwundet bin. Wie freute sich mein [Dienst]führer, dass ich nach einer Stunde gesund und fidel im Quartier ankam und Bericht erstattete. 

Ja, mein lieber Heinzemann, so geht es hier unverhofft zu, doch hat mich das Schicksal diesmal noch verschont. In den letzten Tagen ist der Ivan böse geworden, weil wir ihn am Mittwoch von der Höhe Miszeiken runter geworfen, so dass er im Sumpf und Pfuhl liegenblieb. Dabei wurden noch ein Major und 43 Mann gefangengenommen. Seit drei Tagen greift der Hund unverhofft ständig an und überschüttet die Stadt mit plötzlichen Feuerüberfällen. Sogar Freitag-Nacht hat er es fertiggebracht, einen Fesselballon auf der Nährung hoch zu lassen. Wir haben versucht denselben abzuschießen, wobei der Beobachter mit dem Fallschirm abspringen musste. Fünf feindliche Ivanflieger wurden am Freitag abgeschossen und stürzten brennend ab. Unsere Stellung hat er nicht befunkt, sondern die Kasernen in der Moltkestrasse, Zentralmolkerei, Jakumeitshaus in der Rippenstrasse, katholische Kirche und noch verschiedene Häuser der Stadt. Seit Freitag greift das Ferkel zu verschiedenen Zeiten an, kommt jedoch nicht durch. Aber es passiert immer etwas. Heute morgen um 10:50 bis 13:40 Uhr und 15:07 Uhr hat er wieder die Stadt anständig bombardiert, aber auch gleichzeitig die Hauptkampflinie in Stärke von zwei Bataillonen und 24 Batterien, das sind 96 Geschütze angegriffen. Ein Erfolg blieb ihm versagt. Darum allem Anschein nach böse, versucht er mit Fliegern, die rückwärtigen Stellungen, in denen die Reserve liegt, mürbe zu machen. Wir waren auch bis 17 Uhr alarmiert und hatten unsere Verteidigungsstellung bezogen. Daher habe ich die ganzen Luftangriffe über der Stadt beobachten können. Einige Flieger wurden heruntergeholt, aber bei der enormen Abwehr war nicht deutlich zu erkennen, wieviele. Jetzt fängt es an im Brückenkopf Memel ungemütlich zu werden. Wie ich heute erfahren habe, wurden ein Feldwebel, ein Unteroffizier und zwei Mann auf unserem Hofe getroffen. Der Feldwebel verlor beide Beine hatte noch die Kraft sich seine Pistole zu greifen und hat sich erschossen um sich nicht lange quälen zu brauchen. Ist das nicht ein Held? So weit ist noch alles in Ordnung, wollte nach unserer Hütte gehen, ob sie noch steht, wurde aber durch den Angriff daran gehindert. Vielleicht komme ich in der nächsten Woche dazu. Bin noch gesund und munter, grüsse die Mutti und alle Bekannten recht herzlich. Memel wird mit jedem Tage ein grösserer Schutthaufen. Dir sende ich herzliche Grüsse mein Sohn bis auf ein Wiedersehen in alter Frische.

Dein Papa.


Meinem lieben Papa gewidmet


Als ich den Nachlass meines Vaters durchgesehen habe da fand ich auch eine Zeichnung, die mein Vater als vermutlich 13jähriger für seinen Vater angefertigt hatte. Darin dokumentiert mein Vater die Beschädigungen in Memel durch die russischen Angriffe. Auf der Rückseite der Zeichnung steht: "Meinem lieben Papa gewidmet."

Die Stadt Memel liegt heute in Litauen und heißt "Klaipeda". Bei wikipedia gibt es dazu sehr brauchbare Informationen.

Bilder aus Memel